Schmöker-Ecke   

Hinter der Maske

Weil es ja im Augenblick noch nicht wirklich viel von mir zu "Schmökern" gibt, ist es vielleicht ganz amüsant, wenn ich hier einen meiner früheren Schreibversuche zum Besten gebe ? und zu bedenken bitte, dass dieses Werk 1990 ohne jegliche Recherche, dafür aber mit viel Lust am Schreiben entstand... ;-) Sollte die Story auf Interesse stoßen, lass ich mich gern dazu überreden, sie nach und nach vollständig hier einzustellen!

"Hinter der Maske" ist ein Krimi, der die Heldin Lisa, Kinderbuch-Autorin, in eine aufregende Mordgeschichte hineinzieht.


Prolog

Es ist spät und schon dunkel draußen, die Sekretärin hat das Büro längst verlassen. Der Flur liegt finster vor ihm, doch er überquert ihn ohne Zögern, um schließlich den Raum rechts des Sekretariats zu betreten. Er kann jetzt nur die Umrisse erkennen, aber er weiß, daß das Bild an der Wand van Goghs Sonnenblumen darstellt. Dahinter befindet sich der Safe, dessen Kombination er nicht kennt. Egal. Die Phantasielosigkeit desjenigen, der die Zahlenreihe ausgetüffelt hat, ist allgemein bekannt. Der Mann in dem dunklen Regenmantel probiert mehrere Male, horcht auf das Einrasten des kleinen Rädchens und hat schließlich mit einem Geburtsdatum Glück. Er schüttelt amüsiert den Kopf, dann läßt er seinen Blick über die Papiere im Safe schweifen, bis er an einem kleinen Aktenkoffer hängenbleibt. Er nimmt den Koffer vorsichtig heraus und öffnet ihn. Ein zufriedenes Lächeln umspielt seine Lippen. Die Unterlagen sicher in seiner Manteltasche verstaut, stellt der Mann den Koffer in den Safe zurück. Das Bild hängt jetzt wieder ordentlich darüber, keine Spur ist mehr vom fremden Eindringen zu entdecken. Noch einmal gleitet sein Blick durch den Raum, dann schließt er die Zimmertür. Einen Augenblick verharrt er, dann entscheidet er sich für Treppe statt für den Fahrstuhl. Auf der Straße verschluckt ihn bald der regennasse Asphalt.


1.

London, Charing Cross. Der Zug aus Canterbury hielt mit einem Ruck, die Türen öffneten sich und entließen die Reisenden auf den zugigen Bahnsteig. Lisa Harding erkämpfte sich in dem Gewühl mühevoll ihren Weg in die Bahnhofshalle, wo sie vergebens nach einem Gepäckwagen Ausschau hielt. Die Fahrt war kurz, aber nicht besonders angenehm gewesen, woran das unfreundliche April-Wetter Schuld war. Es hatte geregnet, als sie ihr Haus in Fordwich verließ, und es sah keinesfalls so aus, als würde es demnächst aufhören. Lisa dachte sehnsuchtsvoll an ihr Hotelzimmer und eine heiße Dusche. Tatsächlich noch einen Gepäckwagen aufzutreiben, schien unmöglich, also nahm Lisa seufzend ihren Koffer auf und suchte den nächsten Tube-Eingang. Die Northern Line war gerammelt voll, wie immer in der Rush Hour. Trotzdem entschied sie sich gegen ein Taxi, die U-Bahn erinnerte sie an vergangene Zeiten, zu denen sie an einen solchen Luxus nicht mal einen Gedanken verschwendet hätte. Als sie am Russel Square auf die Straße trat, fluchte sie leise. Der leichte Nieselregen war in dicke Tropfen übergegangen, die einer Sintflut gleich von oben herabprasselten. Den Bummel durchs West End konnte sie endgültig vergessen, sie war schon tropfnaß, als sie in ihrem Hotel nahe des British Museum ankam.
Enttäuscht stellte sie fest, daß es in ihrem Zimmer keine Dusche gab, aber als sie sich dann wohlig in einem heißen Schaumbad in der Wanne zurücklehnte, war die Enttäuschung vergessen. Fast wäre sie eingeschlafen, doch dann raffte sie sich auf, trocknete sich ab und kuschelte sich mit einem Buch ins Bett, das mindestens ebenso spannend und amüsant war wie ein Bühnenstück im Theaterland.
Lisa hatte darum gebeten, um acht Uhr geweckt zu werden, aber als das Telefon pünktlich schrillte, war Lisa bereits seit fünf Minuten wach. Sie bedankte sich bei dem Weckdienst und streckte dann die Hand nach der Gardine aus. Die Aussicht entschädigte sie für das trübe Wetter am Vorabend. Zwar war es noch ein wenig diesig, doch die ersten Sonnenstrahlen kämpften sich schon durch die Nebelschleier. Nach dem ausgiebigen englischen Frühstück ? gewöhnlich bestand diese Mahlzeit für Lisa nur aus ein paar Cornflakes und Toast ? konnte der Tag eigentlich nur noch gut werden.
Vor zwei Jahren war Lisa aus London fortgezogen, weil sie einfach Abstand und Ruhe gebraucht hatte. So sehr sie beides in Fordwich auch schätzte, so sehr vermißte sie manchmal das pulsierende und abwechslungsreiche Leben, an das sie sich während ihrer Studienzeit in London gewöhnt hatte. Als sie damals zum Studium hierher gekommen war, schien sie diese Stadt beinahe zu erschlagen. Sie kam aus einem kleinen Nest in Devonshire und war das eher beschauliche, langsame Leben gewöhnt. Die ungeahnten Möglichkeiten, die eine Stadt wie London zu bieten hatte, hätte sie, wie viele ihrer Kommilitonen, am liebsten alle gleichzeitig wahrgenommen. Sie nutzte ihre neu gewonnene Freiheit nach Kräften aus, eine Party jagte die andere, sie lernte eine Menge verrückter Typen kennen, von denen sie nicht einmal angenommen hätte, daß es sie überhaupt gab. Auf einer dieser unzähligen Partys traf Lisa Tom. Gar nicht verrückt, sondern stinknormal, genau wie sie. Lisa verzog unwillig das Gesicht. Sie wollte sich nicht von ihren Erinnerungen überwältigen lassen. Es war vorbei.
Ihre Leidenschaft hatte außer Tom besonders allem Lesbaren gegolten. So war es denn kein Wunder, daß Lisa schließlich nach ihrem Anglistik-Studium Schriftstellerin geworden war, obwohl ihr die meisten Menschen, die sie kannte und denen sie vertraute, davon abgeraten hatten. Daß das Schreiben eine brotlose Kunst sei, war noch das harmloseste Argument, das sie zu hören bekam. Nach der Geschichte mit Tom aber mußte sie sich einfach in die Arbeit stürzen, und Lisa tat es mit Erfolg. Es waren bereits zwei Bücher erschienen, die zwar nicht auf den Bestsellerlisten standen, sich aber doch immerhin ganz gut verkauften, besser vor allem, als die meisten, Lisa eingeschlossen, es für möglich gehalten hatten. Bücher also waren Lisas zweite und zur Zeit einzige Leidenschaft. Schon damals hatte deshalb die Charing Cross Road mit ihren Bücherläden eine Faszination auf sie ausgeübt, der sie sich nicht entziehen konnte. Sie hatte Stunden zwischen den Regalen verbracht, ohne auf die Zeit zu achten und freute sich auf den immer etwas muffigen Geruch, der unweigerlich zu Antiquariaten gehörte.
Trotzdem beschloß sie, den Tag in Knightsbridge zu beginnen. Sie hatte noch mehr als genug Zeit, bei Harrods vorbeizuschauen und der Versuchung des New England Ice Cream Parlour nachzugeben, bevor sie sich auf den Weg zu Frank machen mußte, der ihr seine Unterstützung bei ihrem neuen Buch zugesagt hatte. Eigentlich war Harrods Lisa zu groß und unübersichtlich. Etwas aber gab es, bei dem sie nicht widerstehen konnte, und das war ein Bummel durch die Lebensmittel-Hallen, vorbei an den Fisch- und Fleischständen, den Wänden aus Marmor und Mosaiksteinchen, der Confisserie mit den riesigen Hochzeitstorten und eben dem phantastischen Eis aus Neu England.
Lisa brauchte ein wenig Geduld, bis einer der Barhocker an dem kleinen Stand frei wurde, aber sie stellte, ein "Rich Chocolate" mit einer Riesenportion Sahne vor sich, nicht zum ersten Mal fest, daß sich das Warten lohnte. Lisa ließ ihre Augen umherschweifen und achtete nicht sonderlich auf ihre Nachbarn, bis eine laute, ziemlich wütende Stimme direkt neben ihr nicht mehr zu überhören war. "Bist du verrückt geworden? Was ist los?"
Lisa schaute zur Seite und mußte sich das Lachen verkneifen. Eine junge Frau in einem quittegelben, nicht gerade geschmackvollen Mantel starrte verblüfft von ihrem leeren Löffel zu einem kleinen Häufchen Sahne auf der Theke.
"Dort drüben!" erwiderte ihre blonde Freundin, die vermutlich die Urheberin des Unfalls mit Sahne war, und deutete mit dem Kopf zur anderen Ecke der Halle in Richtung eines Pralinenbuffets. "Der Typ in der schwarzen Wildlederjacke!"
Die dunkelhaarige Frau neben Lisa nickte. "Was ist mit dem?"
"Sieht verdammt aus wie Kevin!"
Lisas Nachbarin verdrehte die Augen, ließ aber ihr Eis erst genüßlich zwischen Zunge und Gaumen schmelzen, ehe sie antwortete. "Weißt du, Susan, ich wünschte, du würdest mich nicht ständig mit Kevin nerven. Hast du eigentlich gar kein anderes Thema?"
Die andere überhörte die Ungeduld und wandte sich wieder um. "Er ist schon weg!" stellte sie enttäuscht fest.
"Sei doch froh, dann bleibt es dir diesmal wenigstens erspart, ihm hinterherzurennen. Damit machst du dich sowieso nur lächerlich!"
Lisa hatte den Mann nur von hinten gesehen und widmete sich wieder ihrem Eis. Sie bekam allerdings noch mit, daß Miss Wasserstoffsuperoxyd aufstand und verkündete, nach dem Kerl zu suchen, der ihr offenbar das Leben schwer machte, während ihre Freundin nur kopfschüttelnd etwas von "Prince Charming" in sich hineinmurmelte. Lisa blieb noch eine Weile sitzen und beobachtete die vorübergehenden Menschen, bis sie schließlich aufstand und langsam an den Confisserie-Vitrinen vorbei zum Ausgang schlenderte. Einen Augenblick blieb sie vor einer Hochzeitstorte stehen, um das Meisterwerk aus rosa Zuckerguß zu bewundern. Etwas wehmütig versuchte sie sich auszumalen, wie wohl eines Tages ihre Hochzeitstorte aussehen könnte oder ob sie überhaupt jemals eine haben würde, aber noch ehe sie sich diese Frage beantwortet hatte, wurde sie von einem Mann, der es besonders eilig zu haben schien, buchstäblich umgerannt. Viel fehlte nicht, und Lisa hätte das Schicksal ihrer Handtasche, die zu Boden fiel, geteilt; gerade noch konnte sie sich rechtzeitig an der Vitrine festhalten. Schließlich kniete sie nieder, nicht unbedingt ein Kompliment für den ziemlich rücksichtslosen Zeitgenossen auf ihren Lippen, und machte sich daran, den Inhalt ihrer Tasche aufzusammeln. Plötzlich fiel ein Schatten über sie. "Verzeihung, tut mir furchtbar leid, Miss. Kann ich Ihnen helfen?" Eine Gestalt bückte sich und reichte Lisa ihr U-Bahn-Ticket. "Es ist mir wirklich schrecklich unangenehm, aber ich dachte, ich hätte eben einen Freund gesehen und wollte ihn noch einholen."
Lisa seufzte innerlich und fragte sich, ob denn heute jeder irgendwen wiederzuerkennen glaubte. Sie wußte nicht, was sie erwartet hatte, aber als sie sich erhob, war das erste, was sie sah, die schwarze Wildlederjacke, die der Mann trug. Einen Moment stutzte sie, dann tat sie ganz gegen ihre Gewohnheit etwas völlig Spontanes. Sie schenkte dem Unbekannten ein strahlendes Lächeln: "Sie waren das also!"

"Wie bitte?" war verständlicherweise alles, was dem Mann dazu einfiel.
"Ist Ihnen die Flucht gelungen?"
Die zunehmende Verwirrung war Lisas Gegenüber anzusehen. "Ich fürchte, ich weiß wirklich nicht..."
"Sie haben doch vor zehn Minuten beim Pralinenbuffet gestanden, stimmt's?"
Verständnislos nickend, fragte er sich zweifellos, ob Lisa verrückt war, und außerdem, weshalb er eigentlich noch hier stand und sich das anhörte.
"Kennen Sie eine Wasserstoffsuperoxydblondine, um die 22, mit etwas schriller Stimme und grünen Augen?"
Der Mann vergaß seine Überlegungen für einen Moment. Statt dessen trat ein Anflug von Panik in seine Augen, der ihn Lisas kleines Notizbüchlein fallen lassen ließ, das er gerade in der Hand hielt. "Susan? Sie ist hier? Und sie hat mich gesehen?"
Lisa nickte mitleidig und fing das Notizbüchlein auf.
"Wenn sie mich findet, ist das das Ende," überlegte er gequält stöhnend.
"Na, dann würde ich schleunigst verschwinden, Kevin," ermunterte ihn Lisa, die sich inzwischen ein bißchen dumm vorkam. Weshalb hatte sie dieses Geplänkel überhaupt begonnen? Sie erinnerte sich an das gemurmelte "Prince Charming", das mit Sicherheit auf den Mann vor ihr gemünzt war und tatsächlich überaus treffend schien.
"Richtig, und Sie kommen mit. Ich wüßte nämlich gern, was Sie mit Susan zu tun haben!" sagte Kevin energisch.
"Gar nichts, und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich losließen!" protestierte Lisa, als sie sich am Arm gepackt und zum Ausgang gezerrt sah. Sie hätte gleich wissen müssen, daß Spontaneität bei ihr nur zu Chaos führte.
"Bitte entschuldigen Sie," bat Kevin eine Viertelstunde später in einem gegenüberliegenden Café, nachdem Lisa ihm die ganze Sache erklärt hatte. "Bei Susan bin ich gezwungenermaßen sehr vorsichtig, seit sie so ausgerastet ist!"
Das Café wollte so gar nicht zu der etwas bizarren Situation passen, in der Lisa sich wiederfand. Es war gemütlich im viktorianischen Stil eingerichtet, selbst die Bedienung lief im langen Kleid umher, um die Bestellungen aufzunehmen.
"Es ist wahrscheinlich nicht sehr angenehm, sitzengelassen zu werden," gab Lisa zurück.
"Sitzengelassen?" wiederholte Kevin so laut, daß zwei ältere Damen am Nebentisch, die sich eindeutig besser in das Ambiente des plüschigen Raumes einfügten, neugierig herüberschauten. "Wissen Sie, was da war zwischen ihr und mir?" fuhr er leiser fort. "Nichts! Wir kennen uns seit unserer Kindheit, aber plötzlich flippt sie aus! Ich hab sie nach einer Party bei einem Freund nach Hause gefahren, weil kein Taxi mehr zu kriegen war. Seitdem verfolgt sie mich und erzählt überall rum, da wär was gewesen, was einzig und allein ihrer Phantasie entspringt!"
"Da tragen Sie ein hartes Schicksal!"
"Lernen Sie Susan kennen, und Ihnen wird Ihr Sarkasmus vergehen."
"Danke, nach Ihrer Schilderung kann ich drauf verzichten!"
"Auf jeden Fall wäre es besser für Sie!" Einen Augenblick war es still zwischen ihnen, schweigend rührten sie Milch und Zucker in den Tee. Kevin musterte Lisa nachdenklich. Was er sah, gefiel ihm. Lisas graue Augen blickten ihn unumwunden an, das hellbraune Haar fiel ihr auf die Schulter. Während Kevin in Gedanken wohlwollend nickte, fiel ihm ein, daß er nicht einmal ihren Namen kannte.
"Also, selbst auf die Gefahr hin, daß ich Ihnen entsetzlich altmodisch vorkomme," fing er an, "ich wüßte wirklich gern, wem ich hier eigentlich mein Herz ausschütte. Immerhin wissen Sie schon eine ganze Menge mehr über mich als ich über Sie!"
Lisa war Kevins Musterung nicht entgangen, sie selbst hatte sich, was das betraf, auch nicht gerade zurückgehalten, und altmodisch kam er ihr nun wirklich nicht vor. Seine mindestens 1,80 große Gestalt steckte in Jeans und einem karierten Hemd, über dem er die schwarze Wildlederjacke trug. Eigentlich war er gar nicht ihr Typ, sie bevorzugte dunkelhaarige Männer, aber sie mußte zugeben, daß das Blond und die braunen Augen sehr gut harmonierten. Zudem hatte er ein jungenhaftes Grinsen im Gesicht, das ihr außerordentlich gefiel.
"Das ist natürlich höchst ungerecht," lächelte sie ihn an. "Ich heiße Elizabeth Harding, die meisten nennen mich Lisa."
Kevin deutete im Sitzen eine Verbeugung an. "Sehr erfreut, Lisa. Und Sie können es sich leisten, an einem ganz normalen Dienstagvormittag bei Harrods einzukaufen?"
"Das ist das Privileg der freien Künstler!" sagte Lisa vergnügt. Über sich selbst erstaunt lachte sie. Ihr war vorher noch nie in den Sinn gekommen, sich als Künstlerin zu bezeichnen.
Kevin hob erstaunt die Brauen. "Himmel, eine Freischaffende! Was schaffen Sie denn so?"
"Bücher."
Erstaunt und mit neuem Respekt blickte Kevin Lisa an. Irgendwie hatte er sich eine Schriftstellerin anders vorgestellt, wenn er auch im Moment mit einer Definition überfordert gewesen wäre. Aber bevor er noch fragen konnte, um was für Bücher es sich dabei handelte, kam Lisa ihm zuvor.
"Und Sie? Was tun Sie, wenn Sie nicht gerade attraktive Blondinen von Partys nach Hause bringen?"
"Das ist zugegebenermaßen meine Hauptbeschäftigung," stellte Kevin völlig ernsthaft fest. "Ansonsten probiere ich vieles mal aus. Im Moment übe ich mich gerade als Maskenbildner im ?Globe?".
?Komischer Typ?, dachte Lisa. ?Sieht gar nicht so aus, als würde er sich einfach so durchs Leben schlagen.? Laut sagte sie: "Im Theater? Klingt interessant. Ich wollte gestern ein bißchen Theaterluft schnuppern, aber bei dem Wetter fiel das buchstäblich ins Wasser. Welche Berühmtheit muß denn unter Ihren Händen stillhalten?"
"Maggie Smith in Lettice and Lovage. Großartig übrigens. Allerdings muß man Maggie Smith mögen. Mögen Sie sie?"
Lisa lachte. "Ich liebe sie! Zimmer mit Aussicht ist einer meiner Lieblingsfilme!"
Endlich bot sich Kevin die Gelegenheit, wieder auf das Thema zurückzukommen, das er eigentlich gar nicht hatte beenden wollen, und vollbrachte eine gekonnte Schleife von Film zu Buch. "Aber was ich Sie vorhin schon fragen wollte, was schreiben Sie denn nun für Bücher?"
Manche Leuten hatten Probleme damit, wenn sie hörten, daß sie sich nicht mit hochgeistiger Literatur befaßte. "Kinderbücher," sagte sie deshalb etwas zögernd.
"Kinderbücher?" echote Kevin. "So richtig Märchen mit Prinzen und Fröschen und so?"
"Naja, Prinzen kommen auch drin vor. Frösche hatte ich bisher noch nicht, aber das kann ja noch kommen..."
Kevin überlegte, ob Lisa wohl zu Hause einen ganzen Stall voller Kinder hatte, die sie mit ihren Büchern erfreute, wagte aber nicht, danach zu fragen.
"Leider habe ich selbst keine Kinder," fuhr Lisa fort, unbewußt seinen Gedanken beantwortend. "Ich bin nicht mal verheiratet. Aber Kinder sind so unglaublich wichtig. Wenn sie keine Hoffnungen und Träume mehr haben, wer sollte es dann?"
Kevin gefiel, was Lisa da gesagt hatte. Er wünschte sich auch Kinder. Irgendwann mal. Vielleicht mit einer Frau wie der, die gerade vor ihm saß. "Mhm," machte er zustimmend. "Da ist viel dran. Arbeiten Sie gerade an einem Buch?"
"Deshalb bin ich in London. Ich brauche ein bißchen Hilfe von einem Freund."
"Einem, der Kinder hat?" vermutete Kevin und grinste. "Künstler brauchen doch wohl ihre Inspirationen, denke ich."
Ein bißchen erstaunt zog Lisa die Stirn in Falten. Sie hatte Frank noch nie mit Kindern in Zusammenhang gebracht und ein bißchen Schwierigkeiten bei der Vorstellung, einen Haufen kleiner Bälger um Franks Beine tanzen zu sehen. Aber wenn sie länger darüber nachdachte, wieso eigentlich nicht? Kevin allerdings konnte nicht wissen, daß ihr neues Buch nichts mit Märchen zu tun hatte, jedenfalls nicht mit Märchen für Kinder.
"Nein. Augenblicklich beschäftige ich mich mit einer anderen Sache. Bitte nehmen Sie es mir nicht übel, aber ich spreche nicht gern über meine Arbeit, wenn sie nicht mal annähernd fertig ist."
"Auch nicht die kleinste Andeutung?" hakte Kevin nach. "Ich bin sehr neugierig, müssen Sie wissen."
"Und sehr hartnäckig!" Lisa mußte lächeln. "Also gut, weil Sie es sind: Was sagt Ihnen der Name Catherine Eddowes?"
Kevin runzelte die Stirn und wartete darauf, daß der Groschen fiel. Umsonst. "Leider nichts," gab er zu. "Müßte er?"
"Nicht unbedingt. Es ist lange her, seit der Name durch die Zeitungen geisterte. 100 Jahre genau gesagt."
"100 Jahre? 1888?" rechnete Kevin nach.
"Stimmt," nickte Lisa. "Cathy Eddowes war eines der Opfer von Jack the Ripper."
?Himmel?, dachte Kevin.
"Cathy Eddowes war die Frau, die der wirklich töten wollte," fuhr Lisa erklärend fort. "Die anderen Huren wurden nur aufgeschlitzt, um den Mord an ihr zu vertuschen."
Es geschah nicht besonders oft, daß Kevin sprachlos war, aber jetzt brachte er nur ein gestammeltes "Das ist nicht Ihr Ernst, oder?" heraus.
Mühevoll mußte Lisa das Lachen unterdrücken, das sich tief aus ihr heraus emporkämpfte. "Oh doch, das ist mein voller Ernst. Sehen Sie, Kevin, es gibt unzählige Theorien über Jack the Ripper, seine Identität, sein Motiv, seine Opfer. Eine besagt, daß es dem Mörder tatsächlich um Mary Jane Kelly ging, die unglücklicherweise wußte, daß eine Freundin von ihr, Annie Crook, angeblich ein Kind von Eddy erwartete, und das ist vermutlich schon sehr nahe dran an der Lösung. Aber nicht nahe genug. Es wäre zu einfach, verstehen Sie?"
"Äh... nein," gab Kevin mit schwacher Stimme zu. "Wer ist übrigens Eddy?"
"Der Sohn von Edward Albert, Prince of Wales!" Um Lisas Mundwinkel fing es an zu zucken, dann konnte sie sich nicht mehr zurückhalten. Eine Sekunde später stimmte Kevin in ihr Lachen ein.
"Ok, schon kapiert," meinte er schließlich, als er wieder einigermaßen Luft bekam. "Ich frage Sie nie mehr nach Ihrem Buch bis Sie mir freiwillig davon erzählen. Das werden Sie doch irgendwann?"
Lisa nickte, bevor sie sich dessen bewußt war. Dann fiel ihr plötzlich wieder ihre Verabredung mit Frank ein. Sie warf einen Blick auf die Uhr und verzog ungläubig das Gesicht. Die Zeit war so schnell vergangen, aber nun mußte sie gehen.
"Ich bin spät dran für meine Verabredung, Kevin. Dringende Recherchen in Sachen Jack the Ripper..."
"Natürlich," entgegnete Kevin. "Aber ich würde mich freuen, wenn Sie mich darüber auf dem laufenden hielten. Wann sehen wir uns wieder?"
Lisa zog eine negative Antwort gar nicht erst in Betracht. "Wie wär's morgen abend? Ich hätte Lust auf Lettice and Lovage, und danach auf eine Pizza, einverstanden?"
Pizza war nicht unbedingt das, was Kevin vorgeschlagen hätte, aber wenn er diese hübsche Schriftstellerin samt ihren Kinderbüchern nicht aus den Augen verlieren wollte, mußte er ein kleines Opfer bringen.
"Wie haben Sie erraten, daß ich Pizza einfach nicht widerstehen kann? Fragen Sie nach Vorstellungsschluß am Bühneneingang nach mir."
"Werde ich tun. Ich freue mich drauf!"

Als Lisa auf die Straße trat, drehte sie sich noch einmal um. Kevin hatte seinen Platz noch nicht verlassen und winkte ihr zu. Sie gab die Geste mit einem Lächeln zurück. Einen Moment lang spürte sie, wie eine leichte Röte ihr Gesicht überzog, doch war sie Gott sei Dank zu weit entfernt von Kevin, als daß er es hätte bemerken können.
Wenn sie die Verabredung mit Frank pünktlich einhalten wollte, mußte Lisa sich nun wirklich beeilen.


2.

Auf dem Bahnsteig drängelten sich lauter ungeduldige Menschen, die die nicht gerade unüblichen Störungen im Zugverkehr gelassen hinnahmen. Auch Lisa machte es nichts aus zu warten. Die Londoner U-Bahn hat einen ganz eigenen Geruch, und im Gegensatz zu den meisten Menschen, die ihn entweder nicht mehr wahrnahmen oder ihn nicht mochten, liebte sie diesen Geruch. Er gehörte zu London wie der Tower und Big Ben. Trotzdem hätte sie sich nicht so lange mit Kevin aufhalten dürfen, sagte sich Lisa schuldbewußt mit dem Gedanken an Frank, aber seine Gesellschaft hatte ihr einfach gut getan. Kevin tat und sagte offenbar, was ihm gerade in den Sinn kam, und das war erfrischend. Lisa tendierte mehr dazu, über alles erst mal gründlich nachzudenken, bis sie sich zu etwas entschloß. Dann aber war ihre Entscheidung meist endgültig. Sie wunderte sich noch immer, daß sie es fertiggebracht hatte, Kevin einfach so anzusprechen. Hätte sie von vornherein vorgehabt, mit ihm zu flirten, wäre es allerdings ein recht origineller Anfang gewesen.
Endlich hörte sie den Zug durch den Tunnel donnern. Ihr war es nicht so wichtig, ob sie fünf Minuten später kommen würde, aber Frank mochte keine Unpünktlichkeit, wenn man es untertrieben ausdrücken wollte. Sie hatte einmal mit ihm auf einen Klienten gewartet, der sich wegen eines Staus eine Viertelstunde verspätete. Frank war die ganze Zeit durch sein Büro getigert, hatte unzählige Male auf die Uhr und aus dem Fenster geschaut. "Er wird schon gleich kommen, Frank," hatte sie versucht, ihn zu beruhigen, "entspann Dich!" Frank hatte sich für einen Moment gesetzt, war aber kurz danach wieder aufgesprungen. Lisa war froh, als der Mann schließlich auftauchte. Dabei war Frank früher selbst ein Ausbund an Unpünktlichkeit gewesen. Bevor er zu spät zu seinem Abschlußexamen kam und deshalb ein halbes Jahr ans Studium dranhängen mußte, was ihn anscheinend auf ewig geprägt hatte. Wie Tom hatte Frank Jura studiert und schaffte, weil er zwei Jahre eher mit dem Studium begonnen hatte, sein Staatsexamen trotz allem noch eine ganze Weile, bevor Tom überhaupt daran dachte, sich auf die Prüfungen vorzubereiten. Lisa erinnerte sich an lange Abende in Pubs, wo sie Frank und Tom beim Dartspielen zugeschaut hatte, bei dem beide bis spät in die Nacht hinein einen Eifer an den Tag legten, als gelte es, vor Gericht einen Freispruch für einen zehnfachen Mörder zu erkämpfen. Sie spielten um eine Runde Guinness, eine Runde Kilkenny, um ein paar Pence und einmal sogar um Lisa. Meistens gewann Frank, er war ein hervorragender Dartspieler. Aber als es um Lisa ging, gewann Tom. Ganz ohne Darts. Lisa wußte nicht einmal, daß Frank ernsthaft daran gedacht hatte, sie für sich zu gewinnen. Auch ganz ohne Darts.
Nur zwei Minuten nach der vereinbarten Zeit klingelte sie in unten an dem schmalen Gebäude aus rotem Ziegelstein, in dem Frank seine Kanzlei hatte. Frank Headley & Marc Browning, Rechtsanwälte stand auf dem Messingschild an der Tür im dritten Stock, die von Franks Sekretärin Diane geöffnet wurde.
"Lisa, schön, Sie wieder mal zu sehen!" begrüßte sie Lisa. "Mr. Headley erwartet Sie schon."
"Danke, Diane. Ich hoffe, noch nicht allzu lange!" Dabei zwinkerte sie Diane zu, die Lisas Blick amüsiert erwiderte, während sie sie in Franks Büro führte. Frank saß an seinem Schreibtisch, vertieft in eine vor ihm liegende Akte. Er stand sofort auf, als Lisa auf ihn zukam.
"Lisa!" Er zog sie zu sich heran, nur um sie nach einer kurzen Umarmung wieder ein wenig von sich zu schieben und sie genau zu betrachten.
"Du siehst gut aus! Das Landleben scheint dir wirklich zu bekommen!"
Lisa lachte, wobei sie sich ganz automatisch auf die Zehenspitzen stellte und die Hand hob, um eine widerspenstige Haarsträhne aus Franks Stirn zu streichen. Ein wenig erstaunt bemerkte sie dabei, daß sich in Franks dunkle Haare allmählich ein paar silbrige Strähnen eingeschlichen hatten.
"Es bekommt mir großartig. Und ich vermisse jetzt schon das Muhen der Kühe auf der Wiese neben meinem Haus. Du solltest es dir endlich mal ansehen, Frank."
Lisas Haus war tatsächlich früher ein altes Bauernhaus gewesen, aber es gab längst keine Kühe mehr auf der Wiese, und das Haus selbst hatte sie von Grund auf renoviert.
"Ja, du hast recht, aber du weißt ja, ich komme mir auf dem Land immer so verloren vor..."
Alles, was nicht mindestens so groß wie London war, wurde von Frank als ?Land? bezeichnet. Das einzige, was er an ländlichen Gegenden zu schätzen schien, waren die Pubs, die er dort fast noch gemütlicher fand als die in der Stadt. Lisa hatte Frank bisher nicht bewegen können, sie einmal zu besuchen, seit sie nach Fordwich gezogen war.
Als Tom bei einem Autounfall starb, brach für Lisa eine Welt zusammen. All ihre Pläne, die sie schon für ihre Zukunft geschmiedet, all das Glück, von dem sie geträumt hatten, nichts davon würde wahr werden. Sie hätte es nicht mehr ertragen, weiter in ihrer gemeinsamen Wohnung zu leben. Sie war nach Fordwich gezogen, weil es dort ruhig und beschaulich zuging, und nichts mehr sie an Tom erinnerte außer den dumpfen Gefühlen in ihr, die selbst der Abstand zwischen London und dem kleinen Nest nicht mindern konnte. Fordwich war früher der Hafen vom zwei Meilen entfernten Canterbury gewesen. Lisas Haus lag wunderschön an einer großen Wiese, hinter der sich der Stour entlangschlängelte. Es war Frank gewesen, der ihr in dieser schweren Zeit beigestanden, sie ermutigt hatte, in einer anderen Umgebung einen neuen Anfang zu machen. Frank war ein sehr guter Freund geblieben, dennoch achtete er stets auf eine gewisse Distanz, die er ganz bewußt aufgebaut hatte, um sich selbst zu schützen. Er tat für Lisa, was er konnte, aber er konnte und wollte Tom auch niemals ersetzen. Falls Lisa sich eines Tages für ihn entscheiden sollte, dann für ihn, nicht für Toms Freund.
"Trotzdem, ich bin immer für eine Überraschung gut," fuhr Frank fort, "und du wirst sehen: Eines Tages stehe ich plötzlich auf deiner Wiese und melke die Kühe!"
"Das wäre schön! Vielleicht, wenn ich mit meinem Buch fertig bin. Dann hätten wir was zu feiern!"
Einen Moment lang schaute Frank Lisa an, ohne etwas zu sagen, dann schlug er einen geschäftsmäßigeren Ton an. "Wo du gerade von deinem Buch sprichst: Seit du angerufen hast, plage ich mich mit der Frage herum, wie ausgerechnet ich dir bei einem Kinderbuch helfen kann."
"Kein Kinderbuch diesmal, Frank. Jack the Ripper!" antwortete Lisa.
"Hahaha!" machte Frank. "Wie originell! Du hast eine Marktlücke entdeckt!"
"Komisch, daß du mir nicht glaubst. Aber vielleicht war ich heute morgen überzeugender."
"Hat dir das jemand abgekauft?" fragte Frank. "Dann muß dieser jemand dich aber nicht sehr gut kennen."
Lisa schüttelte den Kopf und überlegte kurz, ob sie Frank von ihrer Begegnung mit Kevin erzählen sollte, ließ es aber dann bleiben. "Stimmt, Sherlock Holmes, großartig deduziert!" stellte sie statt dessen fest. "Womit wir beim Thema wären. Ich dachte, ich probiere es mal mit einem Kriminalroman."
"Ein Krimi!" erstaunt hob Frank die Brauen. "Wie bist du darauf gekommen? Ein Krimi für Kinder?"
Daran hatte Lisa noch gar nicht gedacht. Eine Weile blieb sie still und ließ sich das durch den Kopf gehen. "Kein übler Gedanke. Vielleicht was fürs nächste Buch. Das heißt, wenn ich das, woran ich gerade arbeite, verkaufen kann. Ich bin mir nicht sicher, ob es nicht zu trocken und langweilig ist. Ich habe ungefähr die ersten fünfzig Seiten geschrieben, vielleicht könntest du sie dir mal durchlesen, wenn du Zeit hast, und mir deine Meinung sagen. Ganz ehrlich! Und ich brauche deine Hilfe in einer ganzen Menge juristischer Fragen. Mein Held ist Anwalt."
"Sehr schmeichelhaft! Klar, ich stelle mich gerne als Probeleser zur Verfügung und will dich auch davor bewahren, dich durch juristische Wälzer zu kämpfen. Aber abgesehen davon, müßtest du noch wissen, wie es in einer Kanzlei so zugeht. Vielleicht solltest du dir das Ganze einfach mal ansehen, was meinst du? Ein Tag in der Kanzlei des Rechtsanwalts... wie heißt denn dein Held?"
"Martin Grant."
"Klingt sehr vertrauenseinflößend!" grinste Frank. "Wenn du morgen nichts Besseres vorhast, könntest du mich im übrigen zum Gericht begleiten. Zufällig haben wir gerade einen ziemlich interessanten Fall auf Lager, der dann zur Verhandlung kommt. Und morgen nachmittag siehst du dir das Anwaltsleben im Büro an."
"Und ich störe auch nicht?" fragte Lisa sicherheitshalber.
"Quatsch! Marc wird sich freuen, dich wieder mal zu sehen. Und unsere Klienten werden entzückt sein von unserer neuen Mitarbeiterin!"
In diesem Moment wurden sie von Diane unterbrochen, die an die Tür geklopft hatte. "Mr. Headley, die Herren von Treadwell Ltd. sind da."
"Oh ja, richtig. Bitte sagen Sie ihnen, ich stehe in ein paar Sekunden zur Verfügung, Diane."
Als Diane verschwunden war, erhob sich Lisa. "Dann will ich dich nicht länger von deinem Job abhalten. Wir sehen uns morgen, Frank, und vielen Dank für deine Hilfe."
Frank war ebenfalls aufgestanden und reichte Lisa die Hand. "Reiner Selbstzweck! Wenn dein Buch ein Bestseller wird, kann ich mir stolz auf die Brust klopfen und sagen, ich habe auch meinen Teil dazu beigetragen! Ach ja, und vergiß nicht, das Manuskript mitzubringen. Bin schon gespannt auf den Mörder. Es gibt doch einen, oder?"
"Es wäre nicht fair, dir jetzt schon alles zu verraten. Du kommst ums Lesen nicht herum!"


Als Lisa gegangen war, stand Frank noch eine Weile da und sah auf die geschlossene Tür. Er war froh, daß seine Klienten ihn davon abhielten, sich ausgiebiger mit der Frage zu beschäftigen, die ihm im Kopf herumschwirrte.
Die Tage blieben immer länger, trotz des schlechten Wetters. Allerdings konnte das nicht über das leere Gefühl im Magen hinwegtäuschen, das Lisa plötzlich beim Anblick eines chinesischen Schnellimbisses überfiel. Sie hatte seit dem Eis bei Harrods nichts mehr gegessen, also gönnte sie sich eine Portion Huhn süß-sauer und schaute sich anschließend die Theateraushänge in der Shaftsbury Avenue an. Obwohl es noch hell genug war, leuchteten bereits die bunten Neonröhren über den Theatereingängen. Das Lyrics kündigte Sir John Gielgud in Best of Friends an, das Queens lockte mit Frank Finlay in Beyond Reasonable Doubt und das Globe schließlich warb mit Maggie Smith. Wo sie schon mal hier war, konnte Lisa ebenso gut gleich ein Ticket für den nächsten Abend besorgen. Sie wollte bei der Gelegenheit nach Kevin fragen, aber dabei fiel ihr ein, daß sie nicht einmal seinen Nachnamen kannte.
Mit dem Ticket in der Tasche trank sie in einem der Pubs in einer Seitenstraße noch ein Guinness und beobachtete wie früher die Dartspieler. Es waren nicht viele, nur drei, und die waren nicht sonderlich gut. Ein älterer Mann war jedesmal ganz aus dem Häuschen, wenn er es fertigbrachte, das Brett überhaupt zu treffen, wofür ihn die anderen gutmütig lobten. Eine Weile saß Lisa in sich selbst versunken. Sie überlegte, warum sie Kevin so anziehend fand. Lautes Gejohle drang an ihr Ohr, der alte Mann hatte bei seinem letzten Wurf ein ungewöhnlich hohes Ergebnis erzielt. Sie sah, wie er über das ganze Gesicht grinste, ein breites, fröhliches Grinsen. Auf einmal wußte sie, weshalb sie Kevin mochte. Er erinnerte sie an Tom. Bestimmt hatte sie das von Anfang an gespürt, sich aber geweigert, es sich selbst einzugestehen. War es falsch, wenn sie ihn wiedersah? War er nur ein Lückenbüßer? Lisa hatte keine Lust, darüber länger nachzudenken, sondern wollte lieber einfach alles auf sich zukommen lassen. Wenn sie jeden Mann, der ihr begegnete, mit Tom verglich, würde sie vermutlich niemals glücklich werden. Sie zahlte an der Theke ihr Guinness und trat auf die Straße.

Als sie in ihrem Zimmer vor dem Spiegel stand und sich abschminkte, kamen die Gedanken, die sie zu verdrängen versucht hatte, zurück. Einen Augenblick hielt sie inne und betrachtete sich genauer. Ob Kevin sie wohl attraktiv fand? Sie konnte sich durchaus sehen lassen, fand Lisa. Immerhin war sie erst 28, hatte sich bei einer ihrer Lieblingsbeschäftigungen ? dem Schokolade-Essen ? soweit es ihr möglich war, zurückgehalten und eine dementsprechende Figur. Außerdem hielt sie sich für einigermaßen hübsch und intelligent. Ihr einziger wirklicher Fehler waren wohl ihre gelegentlichen Faulheitsanfälle. Während dieser Perioden konnte sie sich einfach nicht dazu aufraffen, irgend etwas zu tun. Sie wanderte dann den ganzen Tag durch die Gegend oder setzte sich einfach stundenlang mit einem Buch in eine Ecke, aus der sie niemand hervorholen konnte. Es gab bestimmt schlechtere Eigenschaften. Lisa runzelte die Stirn. Gut, sie war auch ein bißchen ungeduldig und konnte ganz schön aufbrausend werden, wenn ihr etwas gegen den Strich ging, aber das war immer noch besser, als zu allem Ja und Amen zu sagen. Tom jedenfalls hatte sie so geliebt wie sie war und niemals versucht, sie zu ändern.
Wie um diese Gedanken wieder zu vertreiben, rieb sich Lisa die Augen. Morgen würde ein interessanter Tag werden, sie freute sich darauf, ihn mit Frank und Marc zu verbringen. Sie hatte Frank doch ziemlich vermißt, als sie plötzlich ganz allein in Fordwich in ihr Haus gezogen war, trotz der Telefonate, die sie anfangs regelmäßig geführt hatten, die dann aber immer weniger wurden. Frank war wohl der Meinung gewesen, sie müsse anfangen, ihr Leben selbst wieder in die Hände zu nehmen.

***

Es ist kalt. Verdammt kalt. Und dunkel. Wolken haben sich vor den Mond geschoben. Ein stiller Beobachter würde das Boot auf dem See kaum sehen können. Aber es ist da. Auch das Geräusch ist da, das die Ruder verursachen, wenn der Schatten im Boot sie sachte ins Wasser taucht. Und das Atmen des Schattens ist zu hören, lauter als gewöhnlich, aber dennoch eine Spur zu leise für menschliche Ohren. Der Schatten hatte eine schwere Last zu tragen gehabt, die er nun über den Teich rudert; er war außer Atem gekommen. Nur langsam beruhigen sich seine Lungen, tut das Luftholen nicht mehr weh. Schließlich gelangt der Schatten ans andere Ufer. Er wirft einen prüfenden Blick auf das Gebüsch, vor dem er anlegt und mit einem Seil das Boot festzurrt, dann hebt er seine Last mit der Plane über die Schulter und trägt sie in das Gebüsch hinein. Eine ganze Weile bringt der Schatten damit zu, alles so herzurichten, wie er es in Gedanken geplant hatte. Schließlich betrachtet er das Ergebnis seiner Arbeit, wendet dann abrupt den Kopf ab und geht schnell zu seinem Boot zurück. Als er einsteigt, stößt er mit dem Fuß an einen Gegenstand. Der Schatten runzelt die Stirn. Dann ergreift er die Ruder und bewegt das Boot bis zur Mitte des Sees. Kurz hält er an, um den Gegenstand ins Wasser fallen zu lassen. Ein leises Plätschern ist zu hören. So leise, daß es der stille Beobachter sicher ebenso wenig würde hören können. Aber es gibt keinen Beobachter, und das ist gut so. Noch ein paar Sekunden, wie Ewigkeiten kommt es dem Schatten vor, schaut er hinunter in das Wasser, sieht zu, wie das kleine Päckchen tiefer und tiefer sinkt. Für immer versinkt und unauffindbar bleibt. Asche zu Asche, Staub zu Staub. Oder was sagt man bei Seebestattungen? Ein Zittern durchläuft den Schatten. Es ist kalt.

3.

"Nine to five..." Dieser Song fiel Lisa ein, als sie sich pünktlich zur Bürozeit am nächsten Morgen wieder in der Cork Street einfand. Gott sei Dank blieb ihr diese Eintönigkeit erspart; auch einer der Vorteile, die ihr Beruf mit sich brachte. Die arme Diane würde wahrscheinlich mit einem simplen Acht-Stunden-Tag nicht auskommen, befürchtete sie. Lisa kam damit auch nicht aus, aber ihre Arbeit war ihr Hobby, war das, was ihr Spaß machte, nicht nur ihr Job. Auf ihr Klingeln öffnete Diane, die im Augenblick wirklich nicht beneidenswert, sondern ziemlich hektisch aussah.
"Bitte warten Sie einen Augenblick!" flüsterte sie Lisa zu.
Hinter Dianes Schulter erkannte sie einen Mann und eine Frau, die im Büro standen und die Sekretärin, kaum an ihren Platz zurückgekehrt, mit Fragen bombadierten. Diane blieb ruhig und gab geschickt die nichtssagende Antwort, daß Mr. Headley leider zur Zeit nicht zu erreichen sei. Der Mann, ein untersetzter Endvierziger mit hohem Stirnansatz und ungepflegtem Dreitagebart, blieb hartnäckig: "Dann werden wir eben warten!" und setzte sich Lisa gegenüber in einen anderen Besuchersessel.
Diane schüttelte resigniert den Kopf. "Von mir aus, aber es kann lange dauern!"
"Das macht nichts," sagte die Frau. Sie lächelte dabei höflich, wahrscheinlich, um das ungehobelte Benehmen ihres Begleiters ein wenig zu entschärfen.
Dann endlich winkte Diane Lisa zu sich heran. "Frank und Marc sind nicht da", konnte sie gerade noch sagen, da klingelte das Telefon. Während Diane einen Klienten abwimmelte, reichte sie Lisa einen Umschlag.
Lisa erkannte Franks Schrift, riß den Brief auf und las: "Lisa, tut mir leid, daß Du umsonst gekommen bist, aber ich wußte nicht, wo ich Dich erreichen konnte. Der Gerichtstermin wurde vertagt, unser Mandant hat sich aus dem Staub gemacht. Wir sind ziemlich am Rotieren, keine Ahnung, wo ich gerade bin, wenn Du das hier liest. Wir sehen uns morgen, hinterlaß doch eine Telefonnummer. Frank."
Lisa zog die Augenbrauen in die Höhe und schaute Diane erwartungsvoll an, die gerade den Anrufer vertröstet hatte. In komischer Verzweiflung warf sie einen Blick zur Decke. "Hier ist die Hölle los, Lisa. Wir sind nicht nur vollauf damit beschäftigt, sämtliche Termine abzusagen, sondern auch noch damit, die Presse abzuwimmeln. Die ist übrigens besonders dickfällig." Dabei warf sie einen ärgerlichen Blick auf den Mann und die Frau, die das Geschehen interessiert beobachtet hatten. "Ich wünschte, Mr. Orton hätte sich für sein Verschwinden einen anderen Zeitpunkt ausgesucht, möglichst während meines Urlaubs!"
Lisa lachte, und Diane stimmte schließlich mit ein. Das Telefon klingelte schon wieder, so daß Lisa die Adresse und Telefonnummer ihres Hotels auf einen Zettel schrieb, ihn auf Dianes Schreibtisch legte und leise die Kanzlei verließ.


Die Sonne schien, das mußte ausgenutzt werden, und zwar für einen ausgedehnten Spaziergang durch Hampstead Heath. Lisa liebte diesen großen Park, in dem der Mensch alles gelassen hatte, wie es die Natur bestimmte: die riesigen Bäume, die weiten Wiesen, die kleinen Teiche. Früher war sie oft mit Tom hingegangen, sie hatten auf der Wiese gelegen und sich unterhalten oder zusammen einfach nur ihre Umgebung und ihre Zweisamkeit genossen. Seit damals war sie nicht mehr dort gewesen.
Alles war wie früher, nichts hatte sich verändert. Es kam Lisa vor, als ob Tom im nächsten Augenblick hinter einem der Bäume hervorkommen und sie lachend erschrecken müsse. Aber niemand kam hinter einem Baum hervor, nur spielende Kinder tobten auf der Wiese und warfen Frisby-Scheiben. Da war der kleine Teich, an dem sie so oft gemeinsam gesessen hatten. An dessen Ufer stand noch immer das dichte Gebüsch, das sie vor den neugierigen Blicken anderer Spaziergänger verborgen hatte. Lisa zögerte, dann begann sie zum Teich hinunterzugehen. Sie mußte sich dazu überwinden, vielleicht könnte sie dann endlich auch die dunklen Schatten der Vergangenheit abstreifen.
Plötzlich blinzelte sie. Irgendetwas am Boden blendete sie, etwas, das unter dem Gebüsch liegen mußte. Sie trat näher, schob ein paar Zweige und Blätter zur Seite und bückte sich, um den Gegenstand aufzuheben, der die gerade hervorkommenden Sonnenstrahlen reflektierte. Verwundert betrachtete Lisa einen goldenen Siegelring, der die ineinander verschlungenen Initialen MS trug. Wie kam ein solches Schmuckstück ausgerechnet hierher? Sie steckte den Ring in ihre Manteltasche, beschloß, ihn irgendwo bei der Polizei abzugeben, und kämpfte sich aus dem Gebüsch zurück ins Freie. Aber dann stolperte sie über eine Wurzel und fiel hin. Ihr Sturz brachte ihr einen Fleck im Mantel und einen Riß in ihrem Halstuch ein, das sich in einem Busch verfing, den sie zu allem Überfluß beim Fallen auch noch niedergerissen hatte. Was sie auf der Erde dahinter entdeckte, ließ sie ihren Ärger über den verschmutzten Mantel vergessen.
Hinter dem heruntergerissenen Busch lag ein älterer, in einem schäbigen Anzug steckender Mann. Die aufgerissenen, starr blickenden Augen in dem blutleeren Gesicht ließen nur einen Schluß zu, ebenso wie das kleine Loch, das unmittelbar über der Nasenwurzel fast wie ein drittes Auge aussah. Lisa fühlte eine merkwürdige Kälte in sich hochsteigen, eine Sekunde konnte sie keinen klaren Gedanken fassen. Langsam erholte sie sich von ihrem Schreck und begann, so schnell es ging aus dem Gebüsch zu kriechen. Ihr erster Instinkt sagte ihr, sofort die Polizei zu benachrichtigen, aber plötzlich hielt sie mitten in der Bewegung inne und drehte sich noch einmal um.
Hier hatte sie es mit einer echten Leiche, einem echten Mord zu tun. Vermutlich war es mehr als pervers, ausgerechnet jetzt an ihr Buch zu denken, aber dem Mann konnte nicht mehr geholfen werden. Um Distanz bemüht, als sähe sie einen Film, betrachtete sie den Toten genauer. Die Kleidung des Mannes war nicht nur schäbig, an einigen Stellen sogar eingerissen, sondern auch schmutzig; die Stiefel, die er trug, waren alt und ausgetreten. Es widerstrebte Lisa, noch einmal in sein Gesicht zu schauen, trotzdem zwang sie sich dazu. Es sah aus, als hätte es länger kein Wasser mehr gesehen, ebenso der Hals und die Hände. Lisas Blick glitt über die Gestalt. Irgendetwas an ihr stimmte nicht, aber sie konnte nicht sagen, was es war. Irritiert runzelte sie die Stirn.
Es hatte keinen Zweck, die Benachrichtigung der Polizei noch länger hinauszuzögern. Sie hastete den Weg zurück zu einer Telefonzelle und wählte den Notruf. Eine unpersönliche Stimme bat Lisa zu bleiben, wo sie war und auf einen Streifenwagen zu warten.


"Miss Harding?" fragte ein Seargeant in Zivil auf der Beifahrerseite knapp fünf Minuten später.
Lisa nickte.
"Bitte steigen Sie ein." Der Mann öffnete die hintere Wagentür. "Ich bin Sergeant Mills", stellte er sich vor. "Habe ich das richtig verstanden, Sie haben die Leiche eines älteren Mannes in einem Gebüsch an einem Teich gefunden?" Bei dieser Frage runzelte der Sergeant die Stirn und richtete seine dunklen Augen auf den Rückspiegel, damit er Lisa ansehen konnte.
Der Wagen rumpelte mittlerweile über die Wege des Heath, die allenfalls dafür geschaffen waren, von kleineren Gärtnereifahrzeugen befahren zu werden.
"Ja, das stimmt, Sergeant", bestätigte Lisa.
"Darf ich fragen, was Sie da gemacht haben, Miss Harding?"
"Ich bin spazierengegangen. Als ich hinunter zum Teich kam, entdeckte ich den Toten. Das ist alles," erklärte Lisa. "Da vorn übrigens ist der Teich," schnitt sie dem Sergeant das Wort ab, der gerade etwas erwidern wollte.
Der Wagen kam zum Halten, und Mills, sein uniformierter Kollege, der am Steuer gesessen hatte, und Lisa stiegen aus und gingen hinunter zum See. Mills schob die Zweige zur Seite, wie vorher Lisa, und tauchte mit seinem dunklen Strubbelkopf in das Gebüsch. Nachdem er einen Blick auf den Toten geworfen hatte, wandte er sich an seinen Kollegen.
"Spencer, fragen Sie mal an, wo die Spurensicherung und Dr. Davis bleiben. Das hier sieht mir nicht wie ein Unfall aus."
Police Constable Spencer nickte und kehrte zum Auto zurück. Er hatte kaum die Hälfte des Weges zurückgelegt, als Mills und Lisa ein weiteres Auto, einen Leichen- und einen Krankenwagen heranfahren hörten. Den Krankenwagen hätten sie sich sparen können. Mills wandte sich Lisa zu, während Spencer die Kollegen in Empfang nahm, kam jedoch nicht dazu, etwas zu sagen. Aus dem grünen Austin war ein ziemlich großer Mann ausgestiegen, für den es nicht einfach sein mußte, seine langen Beine in dem relativ kleinen Wagen unterzubringen. Zielsicher ging er auf Mills zu.
"Ah, Mills, schön, daß wir wieder mal zusammenarbeiten! Wie sieht's aus?"
"Inspector Stevenson," begrüßte Mills seinen Vorgesetzten. Er gab sich Mühe, sich die Freude bei den Worten des Inspectors nicht allzu deutlich anmerken zu lassen. Stevenson war ein verdammt guter Polizist, den Mills schon so manche harte Nuß hatte knacken sehen. "Da drüben," deutete er jetzt auf das Gebüsch.
Stevensons graue Haare wurden von den Zweigen durcheinandergebracht, er schien jedoch nicht weiter darauf zu achten.
"Ist Davis schon da?" fragte er nach dem Pathologen.
"Gerade eingetroffen, George," vernahm Lisa eine Stimme hinter sich. Sie kam sich ein bißchen verloren vor, wollte aber um keinen Preis die Unterhaltung unterbrechen. Irgendwann würde sich Mills schon wieder an sie erinnern. Ein kleiner grauhaariger Mann mit einer teuer aussehenden Modellbrille nickte Stevenson kurz zu.
"Sieh dir das an," forderte der Inspector den Arzt auf. Inzwischen wimmelte es von Beamten rund um das Gebüsch mit der Leiche. Die Photographen machten ihre Aufnahmen von dem Toten und der unmittelbaren Umgebung. Davis wartete, bis sie fertig waren, dann kniete er sich neben der Leiche nieder. Er untersuchte sie nur kurz, murmelte ein paar Worte und winkte dann die Leute heran, die den Mann hochhoben und in einen Zinksarg legten. Stevenson ging derweil um das Gebüsch herum zum Teich. Da waren keine Schleifspuren zu erkennen, aber immerhin leichte Fußabdrücke, die vom Seeufer heraufführten. Er beauftragte zwei seiner Sergeants, den ganzen Teich um das Ufer herum nach weiteren Spuren abzusuchen. Als er wieder auftauchte, erkundigte er sich bei dem Pathologen nach seiner Meinung.
"Der Schuß erfolgte aus relativ geringer Entfernung, George. Könnte eine 38er gewesen sein. Auf jeden Fall war der Mann sofort tot. Ich weiß nicht, wo er erschossen wurde, aber hier ganz sicher nicht."
Inspector Stevenson nickte. "Wann ist es passiert?"
"Bist du mit einer Schätzung zufrieden?"
"Was bleibt mir anderes übrig?" grantelte Stevenson ein bißchen mißmutig.
"Tja, dann würde ich meinen, irgendwann zwischen elf gestern abend und fünf Uhr früh. Es ist nachts noch ziemlich kalt draußen, also kann er entweder sehr lange oder erst kurze Zeit da gelegen haben. Tut mir leid, genauer kann ich's dir erst sagen, wenn ich den Mann auf meinem Tisch hatte."
"Gut, ich melde mich dann bei dir."
Dr. Davis verabschiedete sich und stieg in seinen Wagen. Eine Menge Arbeit wartete in der gerichtsmedizinischen Abteilung auf ihn. Dies war nicht der einzige Tote, den es an diesem Morgen gab. Allerdings der interessanteste, das mußte er zugeben. Irgendwas war ihm aufgefallen an dem Mann, nichts Medizinisches, aber irgendwas war falsch an ihm. Er konnte nicht sagen, was es war. Vielleicht würde es ihm einfallen, wenn er ihn genau untersuchte. Auch wenn er dazu nicht sofort kommen würde, setzte er in Gedanken seufzend hinzu.
Jetzt endlich kam Stevenson dazu, sich mit Lisa zu befassen. Sergeant Mills hatte dem Inspector inzwischen berichtet, wer den Toten gefunden hatte. Stirnrunzelnd ruhte Stevensons Blick eine Weile auf Lisa. Eigentlich war er hier fertig, er konnte sie also ebensogut im Yard vernehmen, da war es weniger kalt.
"Erzählen Sie mal," forderte er sie auf dem Weg zurück zum Wagen auf, "wie haben Sie ihn gefunden? Was wollten Sie eigentlich in dem Gebüsch?"
Jetzt erst fiel Lisa der Siegelring wieder ein, den sie aus ihrer Manteltasche holte. "Eigentlich gar nichts, aber das hier hat mich neugierig gemacht. Der Ring reflektierte die Sonnenstrahlen, und ich wollte wissen, was es war. Dabei riß ich dann den Busch nieder und entdeckte den Mann."
"Sie waren das mit dem Busch?" vergewisserte sich Stevenson. So ein Mist. Er hatte gesehen, wie die Kollegen von der Spurensicherung ein paar Stoffasern an dem Gebüsch entdeckten und darauf gehofft, daß die wenigstens einen kleinen Hinweis auf den Täter liefern konnten. "Schade. Dann gehören wohl auch die Fußspuren Ihnen?"
Lisa nickte schuldbewußt. "Ich fürchte, ich habe so ziemlich alles falsch gemacht, was man falsch machen kann. Aber ich konnte schließlich nicht wissen, daß ich eine Leiche finden würde."
Stevenson nickte abwesend. Er hatte sich noch einmal das Bild der Fundstelle ins Gedächtnis gerufen, einschließlich der Leiche selbst. Sie hatte irgendwie unnatürlich da gelegen, nicht als hätte sie jemand eben mal so abgelegt und wäre dann verschwunden. Fast kam es ihm vor, als wäre sie mit Bedacht plaziert worden.
"Inspector?" unterbrach Lisa Stevensons Grübelei. Sie hielt ihm noch immer den Siegelring entgegen. Der Inspector sah auf und lächelte. "Entschuldigung."
Mit einem Kugelschreiber nahm er Lisa den Ring aus der Hand und ließ ihn in eine kleine Tüte fallen, wobei ihm durch den Kopf ging, daß Lisa wahrscheinlich genug eigene Fingerabdrücke hinterlassen hatte, die es unmöglich machten, weitere zu finden.
"Meinen Sie, er gehört dem Täter?"
"Möglich," antwortete Stevenson einsilbig.
?Möglich, ja,? dachte Lisa. ?Aber nicht sehr wahrscheinlich. Warum hätte ihm der Ring vom Finger gleiten sollen? Wer weiß, wie lange er schon dort lag.?
Stevenson schloß den Wagen auf und rief Sergeant Mills, der sich sich hinters Steuer setzte, während der Inspector zu Lisa nach hinten einstieg.
"Konnten Sie den Mann identifizieren?"
"Nein, er hatte überhaupt keine Papiere bei sich. Fragen Sie aus einem bestimmten Grund?"
"Tja..." Lisa stockte. Wahrscheinlich klang es ziemlich abgedroschen, wenn sie ihm jetzt erzählte, daß sie als Schriftstellerin gerade einen Kriminalroman schrieb, aber abgedroschen oder nicht, es war nun mal die Wahrheit. Es interessierte sie brennend, wie Scotland Yard bei einem Mordfall vorging, wenn nicht einmal die Identität des Opfers geklärt war.
Nach der ersten Überraschung (Stevenson hatte immer gedacht, Krimiautorinnen müßten irgendwie so aussehen wie Agatha Christie mit 70) lachte er amüsiert in sich hinein. Dann fiel ihm etwas ein. "Sie haben doch den Toten nicht etwa berührt oder bewegt, bevor Sie die Polizei anriefen?"
"Nein, natürlich nicht!"
Stevenson nickte beruhigt. Schließlich konnte man ja nie wissen. "Also, wir werden natürlich als erstes die Vermißtenmeldungen überprüfen, auch wenn ich das für ziemlich aussichtslos halte. Er sieht nicht gerade aus, wie jemand, der vermißt gemeldet wird. Dann knöpfen wir uns die polizeilich bekannten Obdachlosen vor, vielleicht haben die etwas gesehen oder gehört. Seinem Äußeren nach zu urteilen gehörte der Tote mit ziemlicher Sicherheit dieser Zunft an. Leider sind die meisten nicht allzu gesprächig."
"Was ist mit dem Ring?"
"Der Ring? Oh ja, der Ring..." Stevenson hatte ihn fast vergessen. Er holte ihn aus seiner Tasche und besah ihn sich durch die Folie genauer. Schien ziemlich wertvoll zu sein. "Möglicherweise hat er gar nichts mit dem Fall zu tun, Miss Harding, aber selbstverständlich werden wir auch dem nachgehen. Jedenfalls ein sehr merkwürdiger Ort, so ein Stück zu verlieren.


Der Austin hatte sich durch den Verkehr bis in die City gekämpft, jetzt hielt er vor dem Gebäude des New Scotland Yard. Das Protokoll wurde im Büro von Inspector Stevenson aufgenommen, und gerade als Lisa ihre Unterschrift unter den zweiseitigen Bericht schrieb, klingelte das Telefon. Stevenson hob den Hörer ab und lauschte.
"Tatsächlich? Ganz schön verrückt. Ja, irgendeinen Grund wird er schon gehabt haben," sagte er schließlich. Seine Leute hatten auf der gegenüberliegenden Seite des Teiches weitere Spuren, die mit denen bei der Leiche übereinstimmten, und ein Boot hinter einem Baum gefunden. Damit mußte der Tote über den Teich transportiert worden sein. Ein winziger Blutfleck war darin entdeckt worden, aber es war unwahrscheinlich, daß der von dem Toten stammte. Wenn Stevenson den Pathologen richtig verstanden hatte, war der Mann irgendwo anders erschossen worden. Nach kurzer Zeit schon hätte er aus einer solchen Kopfwunde nicht mehr geblutet. Mögliche weitere Fußspuren verloren sich, weil auf der Wiese, die auf dieser Seite zum Teich hinabführte, Kinder gespielt hatten. Es war doch geradezu idiotisch, den Toten mit einem Boot über den Teich zu schippern, um ihn in dem Gebüsch zu plazieren. Stevenson versuchte sich vorzustellen, wie ein Mann mitten in der Nacht eine Leiche in ein Boot legte, damit über den Teich ruderte und dann... aber das war absurd. Wieso trug er den Toten nicht einfach um den Teich herum oder lud ihn gleich am Ufer ab?
Stevenson sah Lisas fragenden Ausdruck, lächelte und entschloß sich, ihr zu erzählen, was er erfahren hatte.
"Das ist wirklich komisch," stimmte Lisa zu. Ihr kamen die gleichen Bedenken wie dem Inspector, die er allerdings nicht geäußert hatte. Im Augenblick gab es keine Antwort auf die Frage nach dem Warum. Es gab ja nicht mal eine Antwort auf die Frage Wer.
"Bleiben Sie noch länger in London, Miss Harding?" erkundigte sich Stevenson. "Es wäre möglich, daß wir noch ein paar Fragen haben."
Lisa ersparte sich den Satz, den man in diesen Fällen in Kriminalromanen gewöhnlich lesen kann. Sie hatte zwar wirklich alles gesagt, was sie wußte, aber tatsächlich würde sie es sogar begrüßen, noch einmal befragt zu werden. Möglicherweise konnte sie selbst so mehr über den Verlauf der Sache erfahren. "Ich bin gerade erst einen Tag hier, Inspector. Auch wenn während dieser Zeit schon mehr passiert ist als in Fordwich in einem ganzen Jahr, muß ich trotzdem noch eine Weile bleiben!"
Stevenson nickte und reichte Lisa die Hand. "Gut. Dann vielleicht bis demnächst. Sollten Sie noch eine Leiche entdecken, wissen Sie ja, wo Sie mich erreichen!"
Lisa lachte und verabschiedete sich ebenfalls. Der Inspector gefiel ihr, er hatte den Humor während seiner vielen Dienstjahre offenbar nicht verloren.
Der Tag mit Frank wäre sicher interessant gewesen, aber bestimmt nicht derart ereignisreich. Sie fragte sich, was er wohl zu der ganzen Geschichte sagen würde und trat in die nächste Telefonzelle. Aber eine immer noch außer Atem scheinende Diane konnte ihr nur mitteilen, daß ihr Chef noch nicht wieder aufgetaucht war. Vielleicht würde sie abends mehr Glück haben. Plötzlich fiel ihr wieder die Verabredung mit Kevin ein, die sie fast vergessen hätte. Während sie auf der Oxford Street in den großen und kleinen Geschäften nach etwas Passendem für den Abend suchte, ging ihr doch der Tote nicht aus dem Kopf. Sie sah kaum sich selbst im Spiegel, immer wieder schob sich das Bild des Toten vor ihre Augen. Was war es nur gewesen, das ihr so verkehrt an ihm vorgekommen war?
Mit reichlich Tüten und Paketen beladen kam sie schließlich in ihr Hotel zurück. Sie stieg unter die Dusche und hatte gerade begonnen, sich anzukleiden, als das Telefon klingelte. Lisa ließ sich aufs Bett plumpsen und nahm den Hörer ab.
"Hi, Lisa," meldete sich Frank. "Wie hast du den Tag ohne uns verbracht?"
"Oh, danke, ganz ausgezeichnet! Ich fand eine Leiche bei meinem Spaziergang in Hampstead Heath."
"Großartig, freut mich. Hör zu, es tut mir wirklich leid, daß ich dich heute versetzen mußte, aber bei uns ist immer noch der Teufel los. Bis morgen müßten wir das Schlimmste überstanden haben, die Presse und all den Rummel, dann können wir den versprochenen Tag nachholen, okay? Komm doch einfach morgen so gegen zehn vorbei, ja? Prima. Bis dann!"
Die Leitung war tot, Frank hatte aufgelegt. Das einzige von Lisas Worten, das er mitbekommen hatte, war zweifellos "ausgezeichnet" gewesen.
Lisa grinste den Telefonhörer an. Das war typisch Frank. Sie würde ihre Geschichte schon noch loswerden heute abend. Kevin würde sich sicher dafür interessieren, immerhin war es doch irgendwie dramatisch und theatralisch gewesen...